Unsere Expert:innen im Interview: Prof. Dr. Bianca Müller und Prof. Dr. Margit Jekle über Glokalisierung in der Nahrungsmittelproduktion.
Der Trend zur Glokalisierung gewinnt in der Lebensmittelbranche an Bedeutung. Was ist damit gemeint? Hat sich die Globalisierung überlebt, da uns Pandemie und Krieg die Grenzen weltweiter Lieferketten aufzeigen? Ist eine lokale und saisonal ausgewogene Nahrungsmittelproduktion in Deutschland möglich? Was ist mit dem Rest der Welt? Und mit dem Klimawandel? Komplexe Fragen, auf die wir keine Antworten haben – aber dringend finden müssen, wie unsere Expertinnen betonen.
Frau Prof. Dr. Müller, Frau Prof. Dr. Jekle, wie würden Sie den Begriff Glokalisierung definieren und warum ist er für die Lebensmittelproduktion wichtig?
Prof. Dr. Müller: "Im Wort Glokalisierung – oder englisch: Glocalization – steckt viel Lokal drin, was mit dem G von Globalisierung erweitert wird. Inhaltlich geht es beim Zukunftstrend Glokal um die Balance zwischen globalem Handel und lokaler Lebensmittelproduktion. In der Lebensmittelbranche ist die Globalisierung nicht mehr wegzudenken. In den westlichen Industrienationen kennen wir es nicht anders, als jederzeit alle Waren zur Verfügung zu haben und aus einer breiten Palette an Lebensmitteln auswählen zu können. Der Preis ist oftmals noch der entscheidende Parameter für die Kaufentscheidung."
Prof. Dr. Jekle: "Nun aber rücken die ökologischen Folgen einer globalisierten Nahrungsmittelindustrie zunehmend ins öffentliche Bewusstsein. Die Knappheiten in Pandemie- und Kriegszeiten haben uns unsere Abhängigkeiten aufgezeigt. Das sehen wir beim kompletten Warenangebot, aber besonders in der Lebensmittelbranche. Der Food-Trend Glocal spiegelt den Wunsch der Kunden und Produzenten nach einem neuen, sinnvolleren Verhältnis von lokal produzierten und global importierten Nahrungsmitteln wider."
Wie äußert sich das?
Prof. Dr. Müller: "Zum einen werden lokale und globale Aspekte bei der Nahrungsmittelproduktion stärker berücksichtigt und zum anderen erhalten Lebensmittel eine neue Bedeutung: Nicht der günstigere Preis, sondern die regionale Verfügbarkeit wird zum Kriterium, ob Nahrungsmittel importiert und gekauft werden. Der Fokus auf Regionalität in Verbindung mit nachhaltigem Wirtschaften führt Schritt für Schritt zu einer Neuausrichtung des Sortiments im Lebensmitteleinzelhandel."
Im Zusammenhang mit der Glokalisierung spielen Ansätze wie Re-Shoring eine Rolle. Welche Vorteile bringen diese mit sich?
Prof. Dr. Müller: "Re-Shoring, also die Rückverlagerung von Produktionsstätten an den Ort, von dem aus sie ursprünglich, meist aus Kostengründen, ins Ausland verlagert wurden, hat mehrere Vorteile. Zunächst wird dadurch die Akzeptanz der Verbraucher:innen gesteigert. Insbesondere bei Nahrungsmitteln sind wir sehr sensibel. Werden sie in Deutschland hergestellt und stammen auch die verwendeten Rohstoffe von hier, schafft das Vertrauen. Es wird nach heimischen Qualitätsstandards produziert, entsprechende Kontrollen finden statt. Zudem wird die heimische Wirtschaft unterstützt. Arbeitsplätze werden geschaffen und kleinere Unternehmen profitieren. Auch der Nachhaltigkeitsaspekt spielt natürlich eine Rolle, da weite Transportwege entfallen. Außerdem distanziert man sich von den zum Teil schlechten Arbeitsbedingungen in Schwellenländern. Und die eigene Produktionsleistung im Land zu haben, schafft Sicherheit in Krisenzeiten. Man ist unabhängiger vom Weltgeschehen."
Prof. Dr. Jekle: "Natürlich bringt die Rückverlagerung nach Deutschland auch Nachteile mit sich. Das sind vor allem die Kosten, die bei einer Produktion hierzulande anfallen, und zwar sowohl die Investitionskosten als auch die laufenden. Im Ausland kann eben oftmals günstiger produziert werden. Auch nicht außer Acht lassen darf man die strategischen Vorteile, die sich für deutsche Unternehmen durch ihre Auslandsstandorte ergeben können, zum Beispiel, wenn dort neue Märkte erschlossen werden sollen."
Wenn es um regionale Lebensmittel geht, ist hier in Süddeutschland der Apfel vom Bodensee ein beliebtes Beispiel dafür, warum es sinnvoller sein soll, regionale Produkte gegenüber Obst aus Übersee zu bevorzugen. Muss man das aber nicht relativieren, wenn man die Kosten für Lagerung und Kühlung miteinbezieht?
Prof. Dr. Müller: "Die Ökobilanz in der Nahrungsmittelproduktion wird von verschiedenen Parametern beeinflusst. Ein wesentliches Merkmal sind die bereits erwähnten Transportwege. Die fallen bei den Äpfeln von der heimischen Streuobstwiese natürlich kürzer aus. Das schlägt sich in einem geringeren Ausstoß von Klimagasen und Luftschadstoffen nieder im Vergleich zu den Äpfeln aus Übersee, die per Flugzeug oder bis zu vier Wochen lang auf dem Seeweg transportiert werden. Auf der anderen Seite werden heimische Äpfel im Herbst geerntet und bis zum Verkauf unter energieintensiven Bedingungen gelagert. Schließlich wünschen wir Verbraucher:innen uns ganzjährig frische und knackige Äpfel. Das kann dann dazu führen, dass ein im Frühjahr frisch geernteter Apfel aus Neuseeland, der mit dem Schiff nach Deutschland transportiert wurde und hier nur wenig Zeit in lokalen Kühlhäusern verbracht hat, eine bessere Umweltbilanz aufweist."
Prof. Dr. Jekle: "Ideal wäre es natürlich, wenn Verbraucher:innen sich bevorzugt saisonal ernähren würden. Dafür bildet sich ein Bewusstsein, so einen Trend kann man schon beobachten. Aber von einer Lebensmittelproduktion, die größtenteils auf saisonalen und regionalen Erzeugnissen basiert, sind wir noch meilenweit entfernt. Dann wäre die Klimabilanz am allerbesten. Damit betrachten wir aber nur den Aspekt der Nachhaltigkeitskette von Nahrungsmitteln. Man muss aber den gesamten Prozess der Erzeugung sehen. Das schließt auch wirtschaftliche und ethische Parameter mit ein. Alle diese Faktoren spielen in komplexer Art und Weise zusammen."
Prof. Dr. Müller: "Die Bedeutung einzelner Faktoren kann sich auch verschieben, je nachdem welche äußeren Umstände vorherrschen. Wenn zum Beispiel Krieg tobt, werden Nachhaltigkeitsaspekte verständlicherweise verdrängt und die Versorgungssicherheit steht an erster Stelle. Dennoch: Eine Förderung des heimischen Anbaus hilft nicht nur, unsere Selbstversorgung zu sichern, sondern auch unsere Wirtschaft, insbesondere die kleinen Unternehmen, zu stärken. Außerdem tragen wir damit zur Pflege der gesamten Kulturlandschaft bei."
Die Auswirkungen der Pandemie und des Ukrainekrieges auf die globalen Lieferketten werden durchaus unterschiedlich beurteilt. Mitunter heißt es, die Krisen hätten die beeindruckende Resilienz dieser Ketten demonstriert. Wie würden Sie das beurteilen?
Prof. Dr. Jekle: "Die Ukraine war bislang eine der führenden Exportnationen für Getreide, insbesondere Weizen, und auch ein bedeutender Produzent von Raps- und Sonnenblumenöl. Durch den Krieg konnten die Feldprodukte teilweise nicht geerntet oder aufgrund von Blockaden nicht exportiert werden. In Deutschland waren die direkten Auswirkungen glücklicherweise nicht so deutlich spürbar wie in anderen Ländern, die sehr viel abhängiger von den Importen aus der Ukraine sind. Wir haben die Auswirkungen vor allem in Form enormer Preissteigerungen erfahren. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass auch wir von Einschränkungen betroffen sind. Denken Sie an die leeren Regale zu Beginn der Corona-Pandemie. Raps- und Sonnenblumenöl waren zu Beginn des Ukraine-Kriegs nicht mehr erhältlich. Ja, der Grund waren damals die Hamsterkäufe der Verbraucher:innen. Dennoch hat sich gezeigt, dass wir nicht im Schlaraffenland leben und Lieferketten in Extremsituationen auch bei uns versagen können."
Wenn uns die Glokalisierung wirtschaftliche Vorteile bringt, bedeutet das dann nicht, dass es in anderen Teilen der Welt zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation kommen wird? Kehrt die Glokalisierung positive Effekte der Globalisierung in ärmeren Teilen der Welt wieder um?
Prof. Dr. Müller: "Wenn sich auf globaler Ebene grundsätzliche Änderungen im wirtschaftlichen Handeln ergeben, hat dies immer ökonomische Auswirkungen auf andere Länder. Wichtig ist, dass ärmere Länder nachhaltig in ihrem wirtschaftlichen Wachstum gefördert werden. Der Klimawandel wird die Probleme in der Nahrungsmittelversorgung noch verschärfen, gerade in ärmeren Ländern. Durch ständig steigende Ernteausfälle drohen globale Hungernöte. Das wird zu steigenden Flüchtlingszahlen führen, die die Industrienationen auffangen müssen."
Klingt nicht gerade optimistisch.
Prof. Dr. Jekle: "Für Optimismus gibt es leider wenig Grund. Es wird eine Herausforderung, die globale Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen. Das ist ein Problem, das nicht erst in 50 Jahren auftreten wird; unsere Generation wird es erleben. Will man es lösen, wird man globale Ansätze finden müssen. Mit globalen Initiativen können wir die technische Entwicklung weit genug bringen, damit sie Lösungen schafft. Dazu sind vor allem Anstrengungen in Wissenschaft und Forschung nötig. Eingeschränktes, lokales Denken reicht nicht aus."
Halten Sie vor diesem Hintergrund auch ausgefallenere Ideen wie vertikale Landwirtschaft und Urban Farming für umsetzbar, die eine hocheffiziente Lebensmittelproduktion im urbanen Umfeld versprechen?
Prof. Dr. Müller: "Diese Ideen sind tatsächlich vielversprechend. Wie stark sich der Trend durchsetzt, ist aber immer von den Gegebenheiten abhängig. In Deutschland gibt es glücklicherweise noch ausreichend landwirtschaftliche Flächen. In Zwerg- oder Stadtstaaten aber, wie zum Beispiel Singapur, kann das durchaus anders sein. Dort stehen nicht einmal vier Prozent der ohnehin kleinen Landesfläche für die Landwirtschaft zur Verfügung. Wenn sich das Klima in Zukunft wandelt, kann dies außerdem erheblichen Einfluss auf die verfügbaren Anbauflächen haben. Die Bedeutung von Urban Farming bzw. die der vertikalen Landwirtschaft wird dann auch bei uns zunehmen. Aktuell ist der mengenmäßige Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung aber noch von untergeordneter Bedeutung."
Siemens-CEO Roland Busch hat sich unlängst euphorisch zur Glokalisierung geäußert und sie als „das Beste aus beiden Welten“ bezeichnet. Wenn man Ihnen zuhört, dürfte es wohl eher ein schwieriger Spagat zwischen global und lokal werden, oder?
Prof. Dr. Müller: "Diese Einschätzung bezüglich der Glokalisierung teilen wir durchaus. Der globale Handel stimuliert Wettbewerb und Innovation und ermöglicht den Zugang zu anderen Märkten, während nah am Kunden zu produzieren widerstandsfähigere und nachhaltigere Volkswirtschaften schafft und zugleich mehr Wohlstand bringt. Unter dem Strich ist es der richtige Weg, wieder mehr Produktionskapazitäten ins eigene Land zu verlegen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Verbraucher:innen sicher mit hochwertigen Nahrungsmitteln versorgt werden können."
Prof. Dr. Jekle: "Außerdem bleibt die Glokalisierung ein wichtiger Schritt in Richtung ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit. Man darf sich gleichzeitig aber nicht vor der Welt verschließen, denn ohne den globalen Handel würde unsere Lebensmittelindustrie nicht funktionieren. Es ist also ein Spagat und es wird viel Zeit und Energie für ernsthafte Veränderungen brauchen. Aber nur durch Veränderung entsteht Neues und nur durch Veränderung kann sich auch etwas verbessern."
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Prof. Dr. Bianca Müller
hat Ökotrophologie an der TU München studiert, wo sie 2008 promovierte. Seit 2015 ist sie Professorin für Ernährungswissenschaft und Lebensmitteltechnologie an der SRH Fernhochschule, wo sie die Bachelor-Studiengänge Lebensmittelmanagement und -technologie sowie Ernährungswissenschaft und Prävention leitet.
Prof. Dr. Margit Jekle
hat Lebensmitteltechnologie an der Universität Hohenheim studiert, ehe sie 2012 an der TU München promovierte. Seit 2011 ist sie Geschäftsführerin des Weihenstephaner Instituts für Getreideforschung (WIG) in Freising und wurde 2022 als Professorin für Lebensmitteltechnologie an die SRH Fernhochschule berufen.