Unsere Expert:innen im Gespräch: Prof. Dr. Kirsten Hermann über das Zusammenspiel von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. (Lesedauer: 9 Minuten)
Digitalisierung und Nachhaltigkeit – beides Begriffe, die in Wirtschaft und Gesellschaft zwar ständig präsent sind, aber oft ganz unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt werden. Hat Deutschland bei technologischen Entwicklungen das Nachsehen? Tun die Unternehmen hierzulande genug für Umwelt- und Klimaschutz? Entscheidend bleibt die richtige Business-Strategie, sagt Prof. Dr. Kirsten Hermann – und sieht in einer globalisierten Welt auch Vorteile darin, nicht immer bei den Ersten zu sein.
Frau Prof. Dr. Hermann, Sie leiten eine Reihe von Studiengängen und Zertifikaten, bei denen Trends wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung obligatorisch sind. Wo stehen wir diesbezüglich in Deutschland?
"Zunächst würde ich die Digitalisierung nicht als Trend bezeichnen. Das Thema zieht sich ganz selbstverständlich durch alle Branchen und Industrien, und zwar schon lange."
Sie meinen, die Digitalisierung vollzieht sich längst konsequent in Deutschland?
"Sicher nicht überall. Digitalisierung sollte aber immer Chef:innensache sein, weil sie für jedes Unternehmen tiefgreifende Veränderungen bedeutet. Viele haben das verstanden. Ohne Investitionen geht es nicht, das sollte durch die oberste Führungsebene gesteuert werden. Nur so lassen sich durch Digitalisierung Organisation und Prozessgeschwindigkeit eines Unternehmens verbessern."
Also spielen auf Kurzfristigkeit bedachte Begriffe wie Trends gerade keine entscheidende Rolle?
“Doch, natürlich. Hinsichtlich der eigenen digitalen Strategie müssen die Unternehmen ihr Umfeld gut im Blick haben und die Trends dort nicht nur identifizieren, sondern idealerweise bereits antizipieren. Macht man das konsequent und hinterfragt die Ergebnisse im Rahmen eines jährlichen Strategie-Reviews stets kritisch, dann kann man sinnvolle Entscheidungen für das eigene Geschäftsmodell ableiten – und im besten Fall schon heute neue Geschäftsfelder erschließen oder sogar das gesamte Geschäftsmodell von morgen definieren.”
Hätten Sie ein Beispiel aus der Praxis für uns?
“Für einen lokalen Händler kann es sich lohnen, einen eigenen Webshop zu entwickeln, sodass er mehr Kunden erreichen oder die vorhandenen noch besser ansprechen kann. Das muss aber nicht für jede Branche gelten und selbst wenn es strategisch sinnvoll scheint, kann es sich als Irrweg erweisen. Dann muss man reagieren. Natürlich hört es sich erst einmal gut an, wenn der Bäcker im Dorf anbietet, dass man die Sonntagsbrötchen im Internet vorbestellen kann. Aber was, wenn sich herausstellt, dass die Kund:innen das Angebot nicht annehmen, weil sie lieber spontan entscheiden, was sie zum Frühstück möchten? Dann ist es einfach nicht sinnvoll für dieses Unternehmen.”
Wie sollten Unternehmer:innen vorgehen, wenn sie digitale Strategien planen?
"Zuerst sollten sie die Potenziale analysieren. Das kann man nicht genug betonen. Es geht nicht nur darum, ob eine Digitalisierung in diesem oder jenem Unternehmensbereich sinnvoll ist, sondern zum Beispiel auch darum, Rebound-Effekte zu vermeiden. Wenn die digitale Strategie zwar Ressourceneinsparungen verschafft, diese aber zu mehr Verbrauch führen, dann ist damit nichts erreicht. Das gilt in Verbindung mit dem wirtschaftlichen auch für den nachhaltigen Aspekt: Wenn wir aufs E-Auto setzen und damit den Benzinverbrauch reduzieren, der Strom dafür aber nicht aus erneuerbaren Energien kommt, dann ist für Umwelt und Klima wenig erreicht."
Eine sinnvolle digitale Strategie ist also immer auch nachhaltig?
"Nachhaltigkeit ist heute nicht nur ein entscheidendes Kriterium mit Blick auf unsere gesellschaftlichen Werte, sondern auch ein Indikator für eine effektive Strategie. Ressourcen einzusparen, sollte allein schon wegen der wirtschaftlichen Aspekte als Kriterium für die Nutzung digitaler Instrumente mit eingeplant werden, denn sie werden immer knapper. Jede Entwicklung sollte aber mit Augenmaß betrachtet werden: Wo sind die wirtschaftlichen und ökologischen Mehrwerte und sind diese auch sichtbar? Wir müssen in Deutschland gar nicht so sehr die Sorge haben, dass zu wenig in Sachen Digitalisierung und Nachhaltigkeit investiert wird, sondern vor allem darauf achten, dass wir den Fokus richtig setzen."
Tun sich große Unternehmen oder gar die Global Player damit leichter? Oder haben es der Mittelstand und der Bäcker auf dem Dorf einfacher, schnell Strategien umzusetzen und bei Bedarf zu überdenken?
“Da gibt es natürlich große Unterschiede. Bei den DAX- und MDAX-Unternehmen hat es sich inzwischen durchgesetzt, einen Chief Digital Officer (CDO) einzusetzen. Der CDO allokiert alle digitalen Anforderungen und stimmt dann mit den Chief Information Officers die Umsetzung ab. Da geht es um Dinge wie die künftige Ausstattung der IT, die korrekte Umsetzung von Standards und letztlich auch um die Verantwortung. Hier ist also klar ein Trend zu erkennen, wenn Sie so wollen. Kleinere und mittlere Unternehmen können mitunter zwar flexibler agieren, aber bei den großen steckt einfach mehr Manpower dahinter. Dort können Aufgaben effizient separiert werden und einzelnen Personen oder ganzen Abteilungen zugewiesen werden. Unter dem Strich ist man so einfach wesentlich schneller.”
Wenn wir auf große Unternehmen schauen, dann müssen wir uns auch dem internationalen Vergleich stellen. Haben wir da nicht das Nachsehen bei der Digitalisierung?
“Wir sind nicht führend wie der asiatisch-pazifische Raum und die Konzerne aus dem Silicon Valley. Das ist aber gar nicht notwendig. Wir schwimmen auf der digitalen Welle mit. Vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn die Speerspitze der Entwicklung woanders aktiv ist. Der Vorteil ist, dass wir hier von den Erfahrungen dort lernen und profitieren können. Was von dort kommt, wurde nicht nur entwickelt, sondern auch erprobt und hat sich bewährt oder eben nicht. Die Pandemie hat das zum Teil gezeigt, sie hat hier und da die Geschwindigkeit der Digitalisierung erhöht. Damit meine ich gerade keine großen Innovationen, sondern eher praktische und eben erprobte Aspekte: Videokonferenzen sind nun wahrlich nichts Neues, aber in vielen deutschen Unternehmen waren sie vor Corona alles andere als die Regel. Jetzt sind sie durchaus üblich und für viele zumindest eine Ergänzung zu persönlichen Treffen. Das ist eine sehr greifbare Form von Digitalisierung, die für viele Berufstätige Realität geworden ist.”
Und das wäre dann auch gleichzeitig wieder nachhaltig? Weil wir damit in der Regel Energie einsparen, indem wir eben nicht zum Termin oder ins Büro fahren?
"Genau. Wobei es natürlich nicht alle Branchen und Berufe gleichermaßen betrifft, was schon in der Frage steckt, wenn Sie das Büro erwähnen. Digitale Technologien transformieren Wirtschaft und Gesellschaft und wirken sich dabei sehr unterschiedlich aus. Damit wären wir beim gesellschaftlichen Aspekt von Digitalisierung und Nachhaltigkeit, den man neben dem ökologischen ebenfalls beachten muss: Im Hotelgewerbe zum Beispiel hatte bis vor gar nicht so langer Zeit niemand ein Angebot wie Airbnb als ernsthafte Konkurrenz auf dem Schirm. Da hat sich ein ganz neues Geschäftsmodell etabliert, das ohne Digitalisierung so nicht denkbar wäre. Gleichzeitig ist damit eine andere Form des Reisens entstanden, die nachhaltiger sein kann, wenn man vorhandene Güter nutzt, anstatt zum Beispiel neue Ferienwohnungen zu bauen."
Sehen Sie solche Effekte irgendwann für alle Branchen?
"Früher oder später ja. Anfang des Jahres ist die neue EU-Richtlinie zur Unternehmens-Nachhaltigkeitsberichterstattung in Kraft getreten. Diese verpflichtet auch kleine und mittlere Unternehmen egal welcher Branche dazu, ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit transparent zu machen. Die Anforderungen im Rahmen dieser Corporate Sustainability Reporting Directive sind breit gestreut. Es geht um Maßnahmen und Fortschritte in den drei Bereichen Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft, also zum Beispiel auch um Arbeitssicherheit, Gesundheitsprogramme und Einkommensstrukturen. In allen diesen Bereichen wirkt die Digitalisierung wie ein Boost für nachhaltige Entwicklung, weil gerade diese zur Steigerung der unternehmerischen Effizienz beiträgt."
Wie vermitteln Sie das Thema Ihren Studierenden an der SRH Fernhochschule, die ja in den meisten Fällen mitten im Berufsleben stehen?
“Wir bieten verschiedene Studiengänge an, die gezielt auf Sustainability und Nachhaltigkeit bauen, sowohl im Bachelor als auch im Master. Ebenso sind diese Inhalte in vielen Zertifikaten integriert. Wenn ich mit meinen Studierenden über die Situation in ihren Firmen spreche, dann muss man festhalten: Optimierungsbedarf gibt es nach wie vor überall, auch wenn die digitale Geschwindigkeit deutlich zugelegt hat. Deshalb evaluieren wir an der SRH Fernhochschule unser Lehrangebot auch einmal pro Quartal. So können wir Neues schnell und flexibel integrieren. Wie gesagt, regelmäßige Reviews sind entscheidend. Das gilt selbstverständlich auch für unsere Business-Strategie.”
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Prof. Dr. Kirsten Hermann
ist Professorin für Strategie und Unternehmensführung an der SRH Fernhochschule und Ansprechpartnerin für eine Vielzahl von Angeboten im Rahmen der SPIEGEL Akademie, des F.A.Z. Bildungsmarktes und der Würth Akademie. Die Diplom-Kauffrau promovierte 2007 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ehe sie 2017 zur Professorin berufen wurde, war sie 16 Jahre lang in führenden Positionen in der Strategieberatung und in Konzernen wie der Deutschen Telekom AG tätig.